
Der Ministerpräsident von Brandenburg, Dietmar Woidke, hielt im Konzentrationslager Sachsenhausen eine Rede zum 80. Jahrestag der Befreiung von den Nationalsozialisten. Darin gedachte er der mindestens 55.000 Menschen, die dort zwischen 1936 und 1945 durch Misshandlung, Hunger und Entkräftung, Krankheiten und Hinrichtungen ihr Leben verloren haben, sowie der weiteren 145.00 dort Inhaftierten, die unsäglichen Qualen überlebt haben. Besonders herzlich begrüßte Woidke eine Gruppe von Überlebenden, deren Zahl immer weiter abnimmt. Er dankte ihnen für ihr Kommen auf teilweise weiten Wegen und ihr dadurch gezeigtes großes Engagement. Er betonte „wie außerordentlich einprägsam es ist, Berichte von Zeitzeugen zu hören, weil sie eben auf ganz persönlichen, tief erschütternden Erfahrungen mit den Verbrechen des Nationalsozialismus beruhen“.
Der Ministerpräsident spannte den Bogen zwischen den Nationalsozialisten von damals und den Rechtsextremisten von heute, die beide die Demokratie in Deutschland gefährdeten. Es gelte, die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen aufrechtzuerhalten. Allerdings sei ihm ein gemeinsames Gedenken mit Vertretern der Regierung, die den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine zu verantworten habe, nicht möglich. Trotzdem sei man dankbar „für den riesigen Beitrag, den auch russische und weißrussische Soldaten für die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus erbracht und mit einem hohen Blutzoll bezahlt haben“ und werde diese Dankbarkeit immer wieder zum Ausdruck bringen.
Thematisiert wurde auch der Terrorangriff der Hamas im Herbst 2023 gegen die israelische Zivilbevölkerung, infolgedessen es in Deutschland zu antisemitischen Kundgebungen kam. Dass viele jüdische Mitbürger bei uns wieder Angst um ihre Sicherheit haben, nannte Woidke unter Applaus „eine Schande für unser Land“.
Danach hob er die Bedeutung der historischen Orte der nationalsozialistischen Verbrechen für den Umgang von uns Nachgeborenen mit unserer nationalen Geschichte hervor. „Sie zeigen uns nämlich auf erschütternde Art und Weise, wohin Ausgrenzung, Hass und Rassismus eine Gesellschaft führen. An den historischen Orten sehen wir hin, wir hören zu und wir fühlen mit.“ Diese Orte seien aber auf das ehrenamtliche Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger sowie der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten angewiesen, um zu uns zu sprechen.
Hier sprach der Ministerpräsident den Mitarbeitenden der Gedenkstätten seinen besonderen Dank aus, die die ehemaligen Konzentrationslager zu Lernorten und zu Orten der Wissensvermittlung gemacht sowie das Gedenken weiterentwickelt hätten. Die Gedenkstätten seien neben Orten der Mahnung und Erinnerung heute durch ihre Arbeit u.a. im Bereich der Forschung und der Bildungsarbeit ebenso „Orte demokratischer Wehrhaftigkeit“, die gegen Antisemitismus und Rechtextremismus wirkten. Woidke würdigte an dieser Stelle die Arbeit jener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den „Kampf der Wahrheit gegen die Lüge mit Entschlossenheit“ führten. Er versicherte die Absicht der Landesregierung, diese Arbeit weiter zu unterstützen, schon deshalb, „weil wir sensibel bleiben müssen für die Mechanismen von Ausgrenzung, für die Verschiebung von Grenzen im Hinblick auf das, was sagbar ist, aber auch auf das, was nicht sagbar ist.“ Die Gedenkstätte Sachsenhausen wolle in Zukunft verstärkt die zweite und die dritte Generation zu Wort kommen lassen, etwa in Form von Führungen durch Enkelkinder von Überlebenden über das Areal.
Beim Besuch der Orte der NS-Morde und aktiver, kritischer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit könne man nicht gleichgültig bleiben. „Dann kann man nicht weggucken bei Ausgrenzung, man kann nicht weggucken bei Diskriminierung, man kann nicht weggucken bei Fremdenhass und schließlich auch nicht bei der Umdeutung dieses schlimmsten Kapitels deutscher Geschichte.“ Hier hob Woidke schließlich die Verantwortung aller für den Umgang mit unserer Geschichte hervor, die uns alle angehe.
Das Verschriften der Rede des Ministerpräsidenten von Brandenburg, Dietmar Woidke
Sehr geehrte Damen und Herren,
im Konzentrationslager Sachsenhausen waren zwischen 1936 und 1945 mehr als 200000 Menschen unter grausamsten Bedingungen inhaftiert.
Sie wurden hierher deportiert, weil sie politisch unliebsam waren, nicht der nationalsozialistischn Ideologie entsprachen, in den Augen der Nationalsozialisten minderwertig waren, wie beispielsweise Juden, Sinti und Roma. Mindestens 55.000 Menschen haben hier in Sachsenhausen durch Misshandlung, Hunger und Entkräftung, Krankheiten und Hinrichtungen ihr Leben verloren. Das sind furchtbare Zahlen, hinter denen furchtbare Einzelschicksale stehen. Das kommt in den Zeilen des Überlebenden Charles Papier nicht zum Ausdruck, Zitat: „Sachsenhausen ist das Lager des langsamen Todes.
Hier wandeln 30.000 Kadaver durch das Lager. Wenn jemand versucht, ein Stück Gemüseschale zu stehlen, läuft er Gefahr, aufgehängt zu werden.“ Zitat Ende. Auch nach der Befreiung durch die Rote Armee am 22. April 1945 blieb oft nur Verzweiflung und Trauer. Zwie Kleine schrieb, Zitat: „Nach außen war ich frei, doch innerlich, in meiner Seele, in meinem Herzen, fühlte ich mich wirklich befreit?“ Zitat Ende.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
gemeinsam begehen wir heute den 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Sachsenhausen. Im Namen der Brandenburger Landesregierung möchte ich mich bei Ihnen ganz herzlich für die Teilnahme an diesem Gedenken bedanken. Ganz besonders möchte ich Überlebende begrüßen, mich bedanken für Ihr Kommen, mich bedanken für Ihr großes Engagement und für Ihre tiefe Verbundenheit zu diesem für Sie persönlich sehr schwierigen Ort. Ich bin tief berührt, dass Sie, lieber Herr Bartenkowski, Sie, lieber Herr Urban, Sie, lieber Herr Zawatzki und Sie, lieber Herr Dr. Fagold, weite Wege und Strapazen auf sich genommen haben und diesen wichtigen Tag hier mit uns gemeinsam begehen. Ich bin dankbar, dass Sie bereit sind, über Ihre Erlebnisse hier in Sachsenhausen zu sprechen. Wenngleich es mich auch nachdenklich und traurig macht, dass wir nunmehr an einem Punkt angekommen sind, an dem die Abwesenheit von KZ-Überlebenden an solchen Tagen immer stärker zur Regel wird. Bis eben noch habe ich zusammen mit Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegener mit vier KZ-Überlebenden gesprochen. Es hat uns gemeinsam noch einmal verdeutlicht, wie außerordentlich einprägsam es ist, Berichte von Zeitzeugen zu hören, weil sie eben auf ganz persönlichen, tief erschütternden Erfahrungen mit den Verbrechen des Nationalsozialismus beruhen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
so etabliert das gemeinsame Gedenken ist, so wenig selbstverständlich ist es doch, in einer Zeit, in der wir uns immer wieder aufs Neue mit ernsthaften Gefährdungen unserer Demokratie hier in Brandenburg, in Deutschland und Europa, aber auch weltweit konfrontiert sehen. Rechtsextremisten sind wieder auf dem Vormarsch und sitzen in vielen Parlamenten in Deutschland, auch in Brandenburg. Werte und Grundprinzipien unserer Verfassung werden immer häufiger in Frage gestellt. Viele wollen vom Holocaust nichts mehr wissen oder leugnen ihn sogar. Dieser Entwicklung müssen wir uns entschlossen widersetzen. Denn anderenfalls könnten die monströsen Verbrechen der Nationalsozialisten wirklich langsam in Vergessenheit geraten.
Seit nunmehr über drei Jahren herrscht wieder Krieg in Europa. Der brutale völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine ist eine humanitäre, aber eben auch eine moralische Katrastrophe. Es ist nach wie vor ein Krieg gegen Zivilisten und ein Krieg gegen das Völkerrecht. Und ich sage das hier ganz klar: Solange dieser Krieg tobt und den Frieden in ganz Europa bedroht, solange ist es für mich nicht vorstellbar, dass wir hier gemeinsam mit Vertretern einer Regierung, die diesen Krieg zu verantworten hat, dieses Gedenken begehen können. (Applaus)
Nichtsdestotrotz sind wir für den riesigen Beitrag, den auch russische und weißrussische Soldaten für die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus erbracht haben und mit einem hohen Blutzoll bezahlt haben, dankbar. Wir werden diese Dankbarkeit immer wieder zum Ausdruck bringen. (Applaus)
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
dass die Welt instabil ist, sehen wir nicht nur in der Ukraine. Dazu trägt leider auch der Terrorangriff der Hamas im Herbst 2023 gegen die israelische Zivilbevölkerung bei, bei dem viele Menschen brutal ermordet worden sind. In Deutschland kam es in der Folge zu antisemitischen Kundgebungen. Viele jüdische Mitbürger bei uns haben wieder Angst um ihre Sicherheit. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist eine Schande für unser Land. (Applaus)
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wir Nachgeborene dürfen trotz aller schlimmen Geschehnisse um uns herum nicht aufhören uns zu fragen, wie diese Gräuel des Nationalsozialismus in diesem Land passieren konnten. Wir dürfen nicht aufhören zumindest zu versuchen, das zu verstehen, um es nie wieder dazu kommen zu lassen. Dazu brauchen wir die historischen Orte dieser nationalsozialistischen Verbrechen wie hier die Gedenkstätte und das Museum in Sachsenhausen, und wir brauchen sie mehr denn je. Sie zeigen uns nämlich auf erschütternde Art und Weise, wohin Ausgrenzung, Hass und Rassismus eine Gesellschaft führen. Sie machen uns das Ausmaß der nationalsozialistischen Diktatur deutlich, das Ausmaß des Rassenwahns und des Völkermordes, dem Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, entrechtet, verfolgt, gequält und schlussendlich ermordet. An den historischen Orten sehen wir hin, wir hören zu und wir fühlen mit. Aber sie sprechen eben nicht von selbst zu uns. Noch weniger tun es die vielen dezentralen Orte der Verbrechen, die wir in ganz Brandenburg finden, nämlich die Außenlager. Ich bin daher dem ehrenamtlichen Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger sowie der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten überaus dankbar dafür, dass sie auch diese Orte zum Sprechen bringen. Ich möchte mich bei den Mitarbeitenden der Gedenkstätten bedanken, die die ehemaligen Konzentrationslager zu Lernorten und zu Orten der Wissensvermittlung gemacht haben. Sie erzählen und bewahren die vielfältigen Geschichten der Menschen, die hier an dieser Stelle gelitten haben. Sie haben sich der sehr komplexen Aufgabe angenommen, diese Orte weiterzuentwickeln, das Gedenken weiterzuentwickeln. Längst sind die Gedenkstätten eben nicht nur Orte der Mahnung und Erinnerung. Unsere Gedenkstätten wirken mit ihrer Arbeit u.a. im Bereich der Forschung und der Bildungsarbeit jeden Tag ein gegen Antisemitismus und Rechtextremismus. Es sind Orte demokratischer Wehrhaftigkeit. Vielen Dank an alle… (Applaus)
Und wir wissen alle, dass es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch in den letzten Jahren immer schwerer geworden ist, diesen Kampf der Wahrheit gegen die Lüge mit Entschlossenheit zu führen. Und deswegen auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein ganz, ganz herzliches Dankeschön. (Applaus)
Und es ist genau diese Arbeit, die der Grund ist, warum die überlebenden Angehörigen der Überlebenden diesem Ort so verbunden sind. Wir als Landesregierung wissen diese Verbindung in unsere Vergangenheit sehr zu würdigen und wir werden sie weiter unterstützen. Wenn wir wollen, dass unsere Gesellschaft weltoffen und tolerant bleibt, ist das eine gute Grundlage dafür und wir werden diese Arbeit weiter fortsetzen. Wir müssen diese Arbeit schon deshalb stärken, weil wir sensibel bleiben müssen für die Mechanismen von Ausgrenzung, für die Verschiebung von Grenzen im Hinblick auf das, was sagbar ist, aber auch auf das, was nicht sagbar ist. Wir wollen dies alles, deswegen braucht Brandenburg seine Gedenkstätten heute mehr denn je.
Die Gedenkstätte Sachsenhause hat an diesem Wochenende mit einer Mitmachstation aktiv aufgerufen, sich gemeinsam über neue Formen des Gedenkens auszutauschen. Sie geht neue Wege, indem sie – wie auch in Ravensbrück – verstärkt die zweite und die dritte Generation zu Wort kommen lässt, etwa in Form von Führungen durch Enkelkinder von Überlebenden über das Areal.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wenn man die Orte der NS-Morde besucht, wenn man sich aktiv und kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzt, dann kann man nicht gleichgültig bleiben. Dann kann man nicht weggucken bei Ausgrenzung, man kann nicht weggucken bei Diskriminierung, man kann nicht weggucken bei Fremdenhass und schließlich auch nicht bei der Umdeutung dieses schlimmsten Kapitels deutscher Geschichte. Denn wir wollen eine demokratische und weltoffene Zukunft und wir tragen Verantwortung für den Umgang mit unserer Geschichte. Sie ist unsere Geschichte und sie bleibt unsere Geschichte und diese Geschichte geht uns alle an. Senden wir heute gerade von hier, von der Station Z, dem Krematorium und Vernichtungsort ein Zeichen der Mitmenschlichkeit und ein Zeichen des „Nie wieder!“. Die Toten mahnen uns. (Applaus)
Die Rede wurde von Mag. phil. Nader Mohamed aufgezeichnet
und von Kirsten Mische verschriftet

Der Regierende von Berlin Kai Wegner

Herr Axel Drecoll, Direktor der Stiftung Sachsenhausen

Dr. Richard Fagot, israelischer Überlebender


